Über den Tellerrand

Johannes Hartl und das postchristliche Ich

Der Literaturwissenschaftler, Theologe und Gründer des Gebetshauses in Augsburg, Dr. Johannes Hartl, ist für mich einer der Redner unserer Zeit, der es vermag, über Themen der Welt und des Glaubens in einer so klaren und nachvollziehbaren Sprache zu sprechen, dass er neugierig macht auf den christlichen Glauben.

In seinem zweiteiligen Vortrag über das Evangelium und das postmoderne Ich thematisiert er unser heutiges Selbstverständnis als Menschen einer postchristlichen Zeit, in der man gemeinhin meint, das Evangelium als etwas zu kennen, das überwunden wurde. Johannes Hartl stellt mit dem kanadischen Philosophen Charles Taylor die Frage in den Raum: “Wie kann es sein, dass es im Jahr 1500 in Europa unmöglich war, nicht an Gott zu glauben, und wie kann es sein, dass es heute, 500 Jahre später, praktisch unmöglich ist, an Gott zu glauben?”

Mit René Descartes und seinem Ausruf “Ich denke, also bin ich” setzte vor ungefähr 400 Jahren eine Entwicklung ein, die den Menschen zum Zentrum der Realität erhoben hat. Mittlerweile ist im zeitgeistigen Mainstream die Vorstellung fest verankert, dass der Sitz der Realität und der Identität im eigenen Inneren ist. Diese Entwicklung führte in vielen Bereichen zu einer Befreiung, aber das postmoderne Ich sei, so Hartl, nicht nur befreit, sondern auch überfordert. Er zieht den Vergleich mit einem Astronauten heran, der entkoppelt von seinem Raumschiff schwerelos durch das Universum als einen lebensfeindlichen Ort schwebt.

Insbesondere die junge Generation, Gen Z, bekomme die Schattenseiten dieser Befreiungsgeschichte stark zu spüren. Durch den Ausfall der Stabilität in der Familie und der Gesellschaft und durch die Digitalisierung stünden junge Menschen einer Vielfalt an Optionen gegenüber, die sie als überfordernd erleben – verbunden mit dem Grundgefühl, dass es zu viele Möglichkeiten gibt, und der Angst, sich zu entscheiden, weil es immer noch etwas Besseres geben könnte.

Die Auflösung der Stabilität führt aber auch zu einer Suche nach Lebensorientierung. Es gibt Menschen, die sich nicht in den Mainstream einklinken wollen und die brennende religiöse Fragen haben, die spirituell auf der Suche sind. Johannes Hartl entwickelt Schlussfolgerungen, wie man als Kirche diese Menschen erreichen könnte. Unabdingbar sei die Fähigkeit, sich einer präzisen Sprache zu bedienen – keine Worthülsen, sondern zu wissen, was man sagen will. Und das Gesagte müsse aus dem tatsächlichen Leben gegründet sein. Die Menschen müssten erleben, dass Christen keine frommen Abgehobenen sind, keine Heiligen, sondern Menschen, die sich ihrer eigenen Zerbrechlichkeit und Erbärmlichkeit bewusst sind. Sie sollten Orte erleben können, wo schwache Menschen anderen schwachen Menschen begegnen dürfen und dann heil werden – in einer Atmosphäre der Herzlichkeit, in der man willkommen geheißen wird und sich wohlfühlt.

Ein weiterer Aspekt sei die Erfahrbarkeit des Heiligen. Der Wallfahrtsboom in der säkularen Gesellschaft zum Beispiel zeige deutlich, dass Menschen es lieben, das Heilige zu erfahren und dem Himmel ein Stück näherzukommen. Ganz elementar sei das Durchdenken der Perspektive eines Menschen, der wirklich auf der Suche ist, und daraus schöpfend Orte des Heiligen zu schaffen.

Die Völkerwanderung um 500 n. Chr. veränderte das Leben auf unserem Kontinent radikal. Auch die christlichen Strukturen, die sich während des Römischen Reichs entwickelt hatten, brachen auseinander. Aber inmitten dieser chaotischen Phase des Zusammenbruchs und der Neuorientierung entstanden die Klöster als neue Gemeinschaften des Lernens und der Erfahrbarkeit des Heiligen. In ähnlicher Weise könne man, resümiert Hartl, die heutige Zeit verstehen – als eine Herausforderung, in einer postchristlichen Welt Gemeinschaften zu gründen und auf die langfristige kulturelle Transformationskraft zu setzen.

Mir macht dieser Blick auf die Parallelen zwischen Völkerwanderung und heute Mut und ich erlebe es vielfach so, dass wir in unserer Gemeinde in diesem von Johannes Hartl angesprochenen Geiste unterwegs sind.

Christine

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