Die erste Weihnacht
Unser Opa hat unter seinen Schätzen, die ihm lieb und teuer sind, eine Handschrift der Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium. In kunstvollen Lettern sorgfältig auf das edle Papier aufgetragen, entfalten sich Zeile für Zeile die Ereignisse um die Geburt des Christuskindes – von der beschwerlichen Reise Marias und Josefs nach Bethlehem bis zu den Hirten, die ehrfürchtig und andächtig vor dem Neugeborenen niederknien.
Schon als Kind habe ich die Weihnachtsgeschichte in der Schule und im Kindergottesdienst nachgespielt und bin in die wunderbare Atmosphäre zu Weihnachten eingetaucht – und auch meine Kinder nach mir. Je mehr ich in der jüngeren Vergangenheit Jesus wieder intensiv in mein Leben einbezogen und eingeladen habe, desto mehr wollte ich über die Zeit wissen, in der er auf der Erde gelebt hat, und desto mehr fing ich an, die Geburt und Lebenszeit Jesu vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse zu beleuchten.
Wie war die Zeit, in die Jesus hineinkam? Wie waren die Lebensumstände, unter welchen Bedingungen lebte das jüdische Volk? Vieles von dem, wovon die Bibel berichtet, wird mir dadurch klarer.
Als Jesus geboren wurde, war Herodes, von dem das Matthäusevangelium erzählt, König von Israel. Er war aber nicht Herrscher eines unabhängigen Landes, sondern unterstand dem römischen Kaiser Augustus – dem Kaiser über einen Großteil der damals bekannten Welt. Israel war eine Provinz von vielen, die sich das Römische Reich einverleibt hatte. Die Römer regierten mit harter Hand und Herodes tat das Seine dazu bei. Als Günstling Roms hatte er unter dessen wachsamem Auge Karriere gemacht, war zum König aufgestiegen und entwickelte sich immer mehr zum Despoten. Das ging so weit, dass er begann, unter Verfolgungswahn zu leiden, überall Verschwörungen sah und eine seiner Ehefrauen sowie zwei ihrer gemeinsamen Söhne hinrichten ließ. Selbst Kaiser Augustus soll über solch einen Umgang mit den eigenen Kindern nur verständnislos den Kopf geschüttelt haben.
Herodes war unberechenbar und viele Juden flohen aus Angst vor dieser Unberechenbarkeit, der man jederzeit zum Opfer fallen konnte, nach Ägypten – so wie es auch die Familie von Jesus tat. Insbesondere im kulturellen Zentrum Ägyptens, Alexandria, gab es Raum für geistigen Austausch und in den Synagogen rezitierte man die heiligen Schriften, diskutierte und lernte man.
Die Zeit, in die Jesus hineingeboren wurde, war eine unruhige und harte Zeit. Das Römische Reich sorgte mit seinen Verwaltungsorganen und seinen Legionen für Ordnung, aber es verlangte den Bewohnern seines ausgedehnten Territoriums viel ab. Sie waren zu hohen Steuerabgaben verpflichtet und in vielen Entscheidungen nicht frei. Das Leben unter der römischen Oberhoheit war grausam und erbarmungslos. Herodes hatte zwar den jüdischen Tempel in Jerusalem prachtvoll ausbauen lassen, veranstaltete aber ebenso selbstverständlich Gladiatorenkämpfe, gegen die das jüdische Volk protestierte.
Es war zu diesem Zeitpunkt schon über Jahrhunderte unter wechselnder Fremdherrschaft und lechzte nach Eigenständigkeit, Harmonie, Gerechtigkeit und Freiheit. Aus den verschiedenen Gesellschaftsschichten Israels heraus waren neue religiöse Gruppen entstanden, die alle auf ihre Weise den jüdischen Glauben lebendig halten, reformieren oder verteidigen wollten. Irgendwann in dieser Zeit verstärkte sich die Hoffnung auf einen Messias, der den Frieden bringen würde.
Inmitten dieser Gemengelage kommt Jesus, der Messias, auf die Welt. Aber er erhebt nicht wie etwa König David das Schwert und vertreibt die Römer blutig aus Israel. Das, was er den Menschen bringt, ist viel weitreichender und über alle Zeiten hinweg gültig. Jesus zeigt uns, dass das Himmelreich in uns ist und dass wahrer Frieden nur aus unserem Inneren entspringen kann. Ich muss das nicht selbst bewirken, sondern ich kann Jesus mein Leben übergeben und ihn in meinem Leben, Denken und Fühlen wirken lassen. Er ist in diese Welt gekommen, um uns Menschen ein Licht zu sein und uns zu Lichtern in dieser Welt zu machen.
Der Barockdichter Andreas Gryphius schreibt in seinem Gedicht “Des Herrn Geburt”:
Der Mensch war Gottes Bild.
Weil dieses Bild verloren
wird Gott, ein Menschenbild,
in dieser Nacht geboren.
Das ist es, woran Weihnachten uns immer wieder neu erinnert. Ich finde, feinsinniger und zugleich kraftvoller kann man es nicht ausdrücken.