Persönliches

Die Vaterschaft Gottes

Als ich vor zwei Jahren wieder angefangen habe, die Bibel zu lesen, war es wie ein neuer Aufbruch. Ich habe mich auf eine Spurensuche begeben hinein in die Lebenszeit Jesu, das jüdische Leben inmitten der Herrschaft der Römer und die Geschichte des Nahen Ostens. Und ich habe begonnen, Jesus und die Tragweite dessen, was er verkörpert, mit neuen Augen zu sehen. In diesem Prozess wurde irgendwann auch die Frage nach dem Wesen Gottes in mir neu angerührt. Jesus erklärt im Johannesevangelium: “Wer mich sieht, der sieht den Vater.” (Joh 12, 45 Lutherbibel) In Jesus können wir das Wesen des Vaters durchscheinen sehen. Jesus nennt seinen Vater in seiner aramäischen Sprache liebevoll “Abba” und seine Beziehung zum Vater ist von absolutem Vertrauen und absoluter Hingabe geprägt. Er kann uns auch in dieser Hinsicht Vorbild sein, wenn wir uns selbst dem Wesen Gottes anzunähern versuchen.

In seinen Gleichnissen führt Jesus seinen Zuhörern vor Augen, wie Gott im Herzen ist und wie er uns begegnen möchte. Es sind Metaphern wie “Münze”, “Perle”, “Schatz”, “verlorenes Schaf”, die verdeutlichen, wie wertvoll und kostbar die Menschen für Gott sind. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn im Lukasevangelium thematisiert Jesus die Haltung Gottes zu seinen Kindern ganz unmittelbar. Es handelt von einem Vater, dessen zwei Söhne ein großes Erbe erwartet. Der jüngere Sohn fordert sein Erbteil jedoch vorzeitig vom Vater ein und verlässt den väterlichen Hof reich ausgestattet. Er geht mit dem Geld verschwenderisch um und verliert schließlich alles. Von allen verlassen und am Ende seiner Kräfte kehrt er zu seinem Vater zurück, um ihn zu bitten, dass er ihn als sein Knecht einstellen möge. Währenddessen ist der ältere Sohn die ganze Zeit über bei seinem Vater geblieben, hat in Aussicht auf sein späteres Erbe seine tägliche Arbeit verrichtet – und blickt nun argwöhnisch auf den Zurückgekehrten. In der Reaktion des Vaters auf seine Söhne können wir Gottes Herz finden, Gott selbst finden. Der Vater erweist sich schon zu Beginn als ein freilassender Vater, der sich nicht aufdrängt oder dem Sohn Vorwürfe macht, sondern ihn ernst nimmt und in die Eigenständigkeit entlässt. Beim Anblick des heruntergekommenen Zustands des Jungen zögert er keine Sekunde, sondern eilt ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und überschüttet ihn mit Küssen – im jüdischen Selbstverständnis eines älteren Mannes undenkbar.

Auch hier gibt es keine Vorwürfe oder Bedingungen; der Vater nimmt den Sohn ganz selbstverständlich wieder bei sich auf – nicht als Knecht, sondern als Sohn. Ihn, der alles verprasst hat, kleidet er neu ein, gibt ihm einen Ring und Sandalen und feiert mit ihm und der ganzen Gemeinschaft ein Freudenfest. Der Vater gibt dem Sohn die Würde zurück, Boden unter den Füßen und eine neue Perspektive für sein Leben – frei und aus Gnade. Gleichermaßen liebevoll geht er hinaus zum älteren Sohn, der sich ungerecht behandelt fühlt und abgewandt hat. Er überlässt auch ihn nicht sich selbst, sondern tröstet ihn und versichert ihm seine Liebe und Fürsorge.

Das ist im Kern die Botschaft, die Jesus in die Welt gebracht hat: Es gibt diesen Gott und er ist eine Person, die für dich, Mensch, empfindet wie ein Papa für sein Kind. Jesus selbst hat so gelebt, in dem Gefühl des Angenommenseins, in dem Gefühl, dass ihn jemand zutiefst liebt und ihn trägt. Ich glaube, dieses Gleichnis ist wie ein Schatz, der das Potenzial hat, uns für das Vaterherz Gottes empfänglich zu machen. Ich glaube, dass es zutiefst Gottes Sehnen ist, dass wir diese bedingungslose, freilassende, tröstende Liebe, die er für uns hat, erkennen und dass wir uns als Kinder dieses lie- benden, fürsorglichen Vaters fühlen und seine Nähe suchen. Viele Stellen im Alten und im Neuen Testament zeugen vom Vaterherz Gottes. Jakobus formuliert es auf besonders poetische Weise: “Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben herab, vom Vater der Gestirne, bei dem es keine Veränderung oder Verfinsterung gibt.” (Jakobus 1, 17 Einheitsübersetzung)

Christine

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